Bislang lag es jedoch vor Besucheraugen gut versteckt in seinem Geierhorst. Seit Kurzem jedoch reckt es den Kopf immer häufiger aus dem Horst oder robbt nah an dessen Rand heran. Die Chancen für das Wilhelma-Publikum, einen Blick auf den Junggeier zu erhaschen, steigen damit täglich.?
Am besten sind die Aussichten, das zwei Monate alte Gänsegeierküken in seinem Horst zu Gesicht zu bekommen, wenn man unterhalb der Voliere steht und die niedrigste von drei Plattformen im Auge behält. Denn auf dieser befindet sich die einzige diesjährige Geierkinderstube, in der sich zudem erstaunlich spät erst Leben regte. Normalerweise legen Geierfrauen schon Ende Januar je ein Ei, bebrüten es dann abwechselnd über zwei Monate hinweg und Ende März schlüpft das Küken. Da aber der erste Brutversuch scheiterte, nahmen die Geiereltern einen zweiten Anlauf ? mit Erfolg: Der kleine Geier kam am 18. Juni zur Welt, just an dem Tag, als Serbien Deutschland bei der Fu?ball-Weltmeisterschaft 1:0 schlug. Daher gaben die Pflegerinnen und Pfleger dem Kleinen den Spitznamen ?Serbi?. Die anderen derzeit neun Geier in der Voliere haben dagegen keine Namen.
Serbi ist das 29. Küken, das seit Beginn der Gänsegeierhaltung 1981 in der Wilhelma schlüpfte und das 27., das von seinen Eltern bislang erfolgreich gro?gezogen wird. Vier Monate lang sind die bei der Geburt fast 200 Gramm schweren Gänsegeierküken vom elterlichen ?Futter-Express? abhängig. Auf dem Speiseplan steht Fleischbrei aus Mamas Kropf. Je älter das Junge wird, desto früher und weniger vorverdaut wandern die Happen vom gro?en in den kleinen Schnabel. So gewöhnt sich der Jungvogel allmählich daran, immer grö?ere Fleischbrocken zu verschlingen. Diese stammen auch in der Natur generell von toten Tieren. Denn Gänsegeier befreien als ?Gesundheitspolizisten der Lüfte? die Landschaft von Aas. Früher verrichteten die Vögel die seuchenhygienisch wertvollen Dienste auch auf der Schwäbischen Alb. Die Menschen aber ?belohnten? die Abfallentsorger mit ihrer Ausrottung. Und da tote Schafe und andere Kadaver heute gemä? EU-Verordnung in ganz Europa sofort zu beseitigen sind, geht den Geiern langsam überall das Futter aus ? seit einigen Jahren nun auch in Spanien, wo bis dato immerhin noch 18.000 Brutpaare lebten. Auf der Flucht vor dem Hunger tauch-ten auch in Deutschland und auf der Alb wieder einige Geier auf. Allerdings wird das wohl ein Inter-mezzo bleiben, denn ohne ausreichendes Aas-Angebot können sie hier auf Dauer nicht überleben.
Serbi dagegen muss als Zoogeier keinen Hunger fürchten. Denn sobald die elterlichen Spenden aus dem Kropf versiegen, kümmern sich Tierpfleger um sein leibliches Wohl. Mit rund einem halben Jahr wird der Junggeier flügge sein und dann in den Wildpark Potzberg in Rheinland-Pfalz umziehen ? im Tausch gegen ein Pärchen Bartkäuze. Doch das ist eine neue Geschichte ...