Sarrazin machts vor, Stuttgart rechnet nach

Die neue Schätzung der Zahl der in Stuttgart lebenden Muslime zeigt, dass neben die evangelische und römisch-katholische Kirche eine weitere Religionsgemeinschaft getreten ist.





 

Bis in die 70er-Jahre hinein gehörten über 80 Prozent der Stuttgarter Bevölkerung der evangelischen oder der römisch-katholischen Kirche an. In Folge des seitdem zu beobachtenden gesellschaftlichen Wandels hat sich die religiöse Zusammensetzung der Einwohner grundlegend gewandelt. Neben den beiden großen Volkskirchen, die zusammen noch 54 Prozent der Einwohner in Stuttgart stellen, spielen andere Religionsgemeinschaften und Überzeugungen eine zunehmend wichtiger werdende Rolle. Dabei gewinnt unter anderem die Frage nach der Zahl der in Stuttgart lebenden Muslime an Bedeutung.

Da in der Einwohnerstatistik nur Angaben zur Religionszugehörigkeit von Personen verzeichnet sind, die einer öffentlich-rechtlichen Religionsgesellschaft angehören und damit der Kirchensteuerpflicht unterliegen, stehen Angaben zur Zahl der Muslime und anderer Religionen weder auf kommunaler Ebene noch auf Landes- oder Bundesebene zur Verfügung. Dieses Informationsdefizit ist in den vergangenen Jahren immer gravierender geworden, weil der Anteil der nicht kirchensteuerpflichtigen Einwohner weiter steigt.

Um trotz der Lücken in der Einwohnerstatistik Angaben zur Zahl der Muslime machen zu können, hat das Statistische Amt eine neue Schätzung mit einem erstmals angewandten differenzierten Schätzverfahren erstellt. Dieses baut zum einen auf Befragungsdaten zur Religiosität der Einwohner auf, zum anderen wird das Staatsangehörigkeitskonzept um Angaben zum Migrationshintergrund erweitert. Grundlagen der neuen Analyse bilden die Zahl der in Stuttgart lebenden Einwohner mit Migrationshintergrund nach Bezugsländern aus der Einwohnerstatistik sowie Befragungsdaten zur Religiosität unterschiedlicher Migrantengruppen. Letztere basieren auf der Studie „Muslimisches Leben in Deutschland“ (MLD), in der das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im Auftrag der Deutschen Islam-Konferenz über 6000 Personen aus 49 muslimisch geprägten Herkunftsländern zu ihrer Religion befragte.

Als Ergebnis der vom Statistischen Amt erstellten Schätzung der in Stuttgart lebenden Muslime ergibt sich eine Zahl von rund 60 000 Personen mit muslimischem Bekenntnis in Stuttgart zum Jahresende 2009. Diese stammen aus über
50 verschiedenen Ländern. Insgesamt macht die muslimische Bevölkerung damit zehn Prozent aller Stuttgarter Einwohner aus. Rund 19 000 Muslime besitzen die deutsche Staatsangehörigkeit, der Anteil der Muslime an allen deutschen Einwohnern fällt mit vier Prozent vergleichsweise niedrig aus. Die Mehrheit der in Stuttgart lebenden Muslime sind Ausländer. Etwa ein Drittel der ausländischen Bevölkerung gehört der muslimischen Glaubensrichtung an.

Die Hälfte der in Stuttgart lebenden Muslime stammt aus der Türkei. Zu den
19 000 türkischen Staatsangehörigen muslimischen Glaubens kommen noch einmal gut 10 000 Deutsche mit Migrationshintergrund und einem Bezug zur Türkei. Weitere bedeutende Gruppen stellen Einwohner aus dem ehemaligen Jugoslawien (15 000) sowie aus dem Irak (1000) und Afghanistan (400). Insgesamt stammen die in Stuttgart lebenden Muslime überwiegend aus europäischen Staaten sowie der Türkei. Auf andere Regionen entfallen zusammen nur rund 11 000 muslimische Gläubige, die größte Gruppe hiervon stammt aus Ländern des Nahen Ostens.

Betrachtet man die Religionszugehörigkeit unterschiedlicher Migrantengruppen, so zeigt sich ein differenziertes Bild. Die höchsten Anteile von Muslimen zeigen Einwohner mit einem Bezug zur Türkei. 83 Prozent davon sind muslimischen Glaubens, weitere 17 Prozent gehören keiner Religion an. Der christliche Glaube spielt bei türkischen Migranten keine nennenswerte Rolle. Bei Migranten aus anderen muslimisch geprägten Ländern fällt der Anteil der Christen dagegen höher aus. So gehören beispielsweise acht Prozent der Migranten aus dem Irak der römisch-katholischen Kirche an, obwohl der Anteil der Christen im Irak selbst unter drei Prozent liegt. Bei Migranten aus den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien zeigt sich eine vergleichsweise gemischte Struktur mit hohen Anteilen der muslimischen wie der römisch-katholischen Bevölkerung. Bei Migranten aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion fällt der Anteil der Muslime mit rund einem Prozent sehr gering aus.

Neben der Herkunft der Muslime kann deren Zahl nach der Staatsangehörigkeit differenziert werden. Jeweils 19 000 der in Stuttgart lebenden Muslime haben die deutsche beziehungsweise die türkische Staatsangehörigkeit. Bemerkenswert ist die hohe Zahl der muslimischen Einwohner aus den Nachfolgestaaten Jugoslawiens.

Unter der Annahme, dass die Anteile derjenigen, die sich als muslimisch bezeichnen, in den vergangenen zehn Jahren konstant geblieben sind, kann eine Entwicklung der muslimischen Bevölkerung in Stuttgart seit 1999 geschätzt werden. Insgesamt ist die Zahl der Muslime in Stuttgart zwischen 1999 und 2009 um rund 3000 angestiegen. Diese Zunahme ist vor allem darauf zurückzuführen, dass heute mehr Muslime aus dem Nahen Osten, Süd- und Südostasien sowie Nordafrika in Stuttgart leben. Mehr als verdoppelt hat sich seit 1999 die Zahl der Muslime mit deutscher Staatsangehörigkeit. Lebten 1999 knapp 9000 deutsche Muslime in Stuttgart, so liegt der Wert heute bei 19 000.

Gleichzeitig ist vor allem bei den türkischen Muslimen ein deutlicher Rückgang festzustellen. 1999 machten sie mit 23 000 Personen mit Abstand die größte Staatsangehörigkeitsgruppe aus, heute wohnen in etwa gleich viele türkische wie deutsche Muslime in Stuttgart.

Für die Zukunft ist mit einem weiter ansteigenden Anteil der muslimischen Gläubigen bei deutschen Staatsangehörigen zu rechnen. Denn während immer mehr Deutsche mit Migrationshintergrund in Stuttgart leben, geht die Zahl der Ausländer seit 2002 kontinuierlich zurück. Entsprechend ist die Staatsangehörigkeit zunehmend weniger geeignet, um hieraus auf die Religion der Einwohner zu schließen.

Zusammenfassend stellt das Statistische Amt fest: Die neue Schätzung der Zahl der in Stuttgart lebenden Muslime zeigt, dass neben die evangelische und römisch-katholische Kirche eine weitere Religionsgemeinschaft getreten ist. Im Gegensatz zu den christlichen Volkskirchen, die seit den 70er-Jahren aus demografischen Gründen bundesweit Mitglieder verlieren, konnten die Einwohner muslimischen Glaubens in den vergangenen zehn Jahren moderate Zugewinne verbuchen. Allerdings ist der Anteil der Muslime an der Gesamtbevölkerung in Stuttgart mit rund zehn Prozent nach wie vor deutlich geringer als der der christlichen Kirchen.



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